Zum Tod von Eberhard Jüngel

Gestern ist Eberhard Jüngel, Professor für Systematische Theologie, im Alter von 86 Jahren gestorben. Den meisten wird dieser Name überhaupt nichts sagen. Darum drängt es mich zu ein paar Zeilen. Ich habe lange bei Eberhard Jüngel studiert. Er hat mich geistig nahezu gedrängt, die Freiheit des Glaubens und des Lebens zusammen zu denken. Warum ist das so wichtig?

Das hatte bei mir unter anderem mit meiner sehr engen christlichen Sozialisierung in den 70er Jahren zu tun. Bei Jüngel lernte ich nach und nach, die existentiellen Fragen des Lebens mit biblischen Perspektiven zu verknüpfen. Dabei stand eins besonders im Mittelpunkt: Gott ist Mensch geworden. Daran hängt alles, was Glauben und Leben verbindet, oder besser, ausmacht. Der Mensch gewordene Gott kommt immer neu in diese Welt und verändert sich darin selbst in der Weise, wie wir als Menschen sein Wesen abbilden. Zugespitzt formuliert: Wir sind als Menschen (nicht nur als Christenmenschen) Gottes Weg in die Welt. So ist „Gottes Sein… im Werden“. Jüngel hielt die Liebe für den Dreh-und Angelpunkt einer Theologie, die mit Gottes Menschsein ernst macht.

Heute ist es unvorstellbar, wie wir in strenger wissenschaftlicher Manier Vorlesungen hörten (z.T. waren 1.500 Studierende in 4 Hörsälen anwesend!) und in Seminaren nicht geschont wurden. Jüngel war kein einfacher Mensch. Unnahbar für viele, eine Art Diva des theologischen Betriebs und nicht immer nur angenehm, nicht wenige bezeichneten ihn als arrogant. Und doch hat er wie kaum ein anderer in den deutschsprachigen Kirchen Einfluss auf die Kirchenleitungen, theologischen Institute und Akademien gehabt und damit auch viele Pfarrer:innen in Deutschland geprägt.

Er war ein theologisch ungemein kluger und weitsichtiger Mensch, der selbst aus einem säkularen Elternhaus in der ehemaligen DDR stammte. Ob seine Strenge dort ihren Ursprung hatte, weiß ich nicht, aber seine Art zu lehren und aufzutreten hatte durchaus etwas originär Preußisches an sich.  Aber das war nur die eine Seite.

Man konnte ein anstrengendes Seminar durchleiden, wo die Köpfe rauchten. Am Abend in seiner Küche – er war ein hervorragender Koch! – schmiss er einfach einen 1,5 Kilo schweren Braten durch die Küche, sagte kurz: „Fangen Sie mal und salzen den schön!“ Von frommen schwäbischen Studentlein auf das Tischgebet hingewiesen, das er ganz offenbar auslassen wollte, ließ er uns alle brav die Hände falten und die Köpfchen senken, um dann ungeniert in den Raum zu rufen: „Piep, piep, piep – wir hab’n uns alle lieb“. Dann erzählte er Anekdoten aus seiner Familie, die ihn zu solchem Nonsens anhielten.

Das mag ein kleines Bild für jene Freiheit sein, die Jüngel in enormer Bandbreite wichtig war. So wurde er auch ökumenisch beachtet und geehrt, mehr als vielen vielleicht bewusst ist. Das gilt freilich vor allem den Raum europäischer und amerikanischer Theologie. Seine weltbezogene und stringente Denkweise, „Gott als Geheimnis der Welt“ zu sehen und verstehen zu wollen, ist in anderen Gegenden der Welt nie wirklich angekommen. Das kann erklärbar sein, zeigt aber auch die fast schon hermetische Abgeschlossenheit eines Betriebs, der in einem sehr begrenzten und eingeschränkten Kontext zuhause ist.

Anders ausgedrückt: Eine Auseinandersetzung dieser eurozentrischen Theologie und ihrem wichtigen Geist des 20. Und 21. Jahrhunderts mit den gegenwärtigen Ansätzen in afrikanischen oder lateinamerikanischen Fakultäten findet so gut wie nicht statt. Das beruht natürlich auf Gegenseitigkeit. Aber im 21. Jahrhundert ist es Zeit, die existentiellen theologischen Fragen im europäischen Kontext mit denen der Mehrheit der Weltbevölkerung zusammenzudenken. Die Freiheit des Glaubens und des Geistes gebietet es nahezu.