Archiv der Fürbitten

Tach auch! Bonjour! Buenos Dias! Hello! Moin! Jambo! Halo!

(Fast) tägliche und manchmal auch fromme Gedanken zum Zeitgeschehen aus dem Eine Welt Zentrum Herne. Zugrunde liegen die täglichen Bibelverse der Herrnhuter „Losungen“,

www.losungen.de. verantwortlich: Martin Domke

Sei mir ein sicheres Zuhause, wohin ich jederzeit kommen kann! Du hast doch zugesagt, mir zu helfen
Psalm 71,3
Er wird mich auch weiterhin vor jedem feindlichen Angriff retten und wird mich bewahren, bis ich in seinem himmlischen Reich bin
2.Timotheus 4,18
Bleiben Sie zuhause! Jeder Fernsehsender erinnert uns daran, 24 Stunden am Tag. Fast habe ich schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich ins Büro fahre, zumal ich als Risikopatient gebrandmarkt bin.
Es gehört zu den Härten dieser Tage, dass viele Familien von ihren Liebsten getrennt leben müssen, die Besuchsverbote in den Alten- und Pflegheimen treffen viele extrem hart. Zuhause sind eben die Menschen, die wir lieben und mit denen wir Umgang haben. Wohin ich jederzeit kommen kann!
Mich irritiert in diesem Zusammenhang eine Debatte, die ich inzwischen in unterschiedlichen Zusammenhängen erlebt habe. Man könne über alles reden, aber man solle doch bitte jetzt nicht anfangen die Systemfrage zu stellen. Alles, aber bitte jetzt keine Diskussion um unsere kapitalistische Weltanschauung!
Als wenn sich die Krise vorschreiben ließe, welche Diskussionen aus ihr heraus entstehen! Als wenn diese angebliche(!) Grundform wirtschaftlichen Handelns uns nichts als Wohlstand und Gerechtigkeit gebracht hätte. Aus der Finanzkrise 2008/2009 haben die allermeisten Gesellschaften so gut wie keine Konsequenzen gezogen, sie hat Millionen in den Ruin getrieben. Seit 2012 sollte ein Pandemieplan erstellt werden – man hat es aus Kostengründen nicht für nötig erachtet, das umzusetzen. Und als wäre unser Sozialleistungssystem so leistungsfähig, dass man nicht über die schlichte Notwendigkeit eines Grundeinkommens reden müsste. Altersarmut? Gibt’s doch bei uns nicht!
Es scheint sehr deutlich: Diejenigen, die jetzt den Ton angeben und nicht reden wollen, meinen im Kapitalismus ihr Zuhause zu haben. Aber es sind eben diejenigen, die davon profitiert haben und noch weiter profitieren. Von der globalisierten Wirtschaft haben viele profitiert, ihre Gewinne wurden und werden auf dem Rücken von Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern in den Produktionsländern erwirtschaftet. Wie denken diese eigentlich über diese Form des angeblich so gerechten Wirtschaftens? Fühlen sie sich darin zuhause geschweige denn geborgen? Und warum wehrt sich die Politik auch bei uns mit Händen und Füßen gegen die Errichtung einer Lieferkette, die vom Anfang an bis zum Endprodukt die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards sicherstellt, per Gesetz?
Es hat etwas zutiefst Religiöses oder zumindest Ideologisches an sich, die Debatte über diese Fragen im Kein ersticken zu wollen. Wann wenn nicht jetzt müssen wir darüber in aller Deutlichkeit reden? In Deutschland liegt übrigens ein Grund für die nach wie vor schwelenden Konflikte zwischen Ost und West darin, dass die Wessis den Ossis schlicht nicht zugestanden haben, dass sie mitten in dem von den wenigsten geliebten System dennoch zuhause waren. Sie haben darin gelebt, gelitten, gestritten, gefeiert und auch gelernt. Zuhause kann man offenbar in jedem System sein. Dass „unser“ System aber besser ist und Krisen meistern kann wie kein anderes, dass man sich immer dahinein flüchten kann – darüber zu reden steht jetzt an und nicht irgendwann. Zuhause muss man reden können, ohne Maulkorb und ohne Vorbedingungen. Alles andere ist eben schwer ideologieverdächtig. Reden wir also drüber, denn die Gedanken sind frei, sollten aber zumindest in Krisenzeiten auch offen ausgetauscht werden. Darin erweist sich ein Zuhause, zu dem man sich jederzeit flüchten kann. Den Beweis, dass dazu ausgerechnet unser Wirtschaftssystem besonders fähig ist, muss es jetzt erbringen – oder sich eben auch grundlegende Fragen gefallen lassen.

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